Gold verpasst, Silber gewonnen: Mathias Flückiger wird im olympischen Mountainbike-Rennen Zweiter hinter dem überragenden Briten Thomas Pidcock. Nino Schurter hat im Kampf um Bronze als Vierter knapp das Nachsehen, Mathieu van der Poel schafft es nicht in Ziel.
Soll er sich nun freuen über Silber? Oder soll er seinem ersten Impuls folgen und sich über die verpasste Goldmedaille ärgern, die er sich ganz unschweizerisch und unverblümt zum grossen Ziel gesetzt hatte? Mathias Flückiger wusste es kurz nach dem Rennen selber nicht genau. Doch dem 32-jährigen Berner war bewusst: Mit etwas Abstand wird er sich uneingeschränkt über seine erste Olympia-Medaille freuen können. Zu stark war der Sieger in diesem spektakulären, anspruchsvollen Rennen, zu wenig gab es an der eigenen Leistung in der Nachmittagshitze zu bemängeln.
„Ich kann schon stolz sein. Wir alle wissen, wie wertvoll eine olympische Medaille ist“, sagte er. Diese Erhabenheit drang in seiner Körperhaltung allerdings nicht durch. „Ich hatte hohe Erwartungen und wollte gewinnen. Man muss immer in die Mitte zielen, dort lag für mich der Sieg. Ich schoss also am Ziel vorbei.“
Flückigers Frust ist zu einem gewissen Grad verständlich. Die Ausgangslage glich jener von Nino Schurter in Rio 2016. Der Bündner stand nach Bronze (2008) und Silber (2012) quasi in der Pflicht, seine Karriere endgültig zu veredeln – was er auch tat. Flückiger hätte sich nun im Zenit seiner Leistungsfähigkeit die Option auf den grösstmöglichen Sieg im Mountainbike geboten. Eine derartige Ausgangsposition offeriert Paris 2024 nicht mehr.
Gegen Tom Pidcock, der sich im Juni noch das Schlüsselbein gebrochen hatte, war am Tag X der Cross-Country-Elite auf der Halbinsel Izu kein Kraut gewachsen. Der Tempoverschärfung des erst 21-jährigen Engländers nach vier von sieben Runden vermochte Flückiger als einziger eine Weile lang einigermassen zu folgen. Im Ziel betrug Pidcocks Reserve auf seinen ersten Verfolger 20 Sekunden.
Auch Nino Schurter, der im Kampf um Bronze dem Spanier David Valero Serrano um acht Sekunden den Vortritt lassen musste, hatte sich wenig vorzuwerfen. Wie vorgenommen ging der 35-jährige Olympiasieger von 2016 das Rennen aktiv an und mischte er zunächst vorne mit. In Runde 4 musste er zwar Pidcock und Flückiger ziehen lassen, die Bronzemedaille lag aber weiter in Reichweite, insbesondere als der formstarke Tscheche Ondrej Cink an dritter Stelle liegend durch einen Defekt ausschied. „Ich bin mit dem Rennen zufrieden. Ich habe alles gegeben und ich bin von Beginn an aktiv gefahren. Ab Rennmitte fehlte mir der Saft“, sagte der Routinier. Pidcock und Flückiger zogen davon, Schurter leistete, um Flückigers Position abzusichern, keine Nachführarbeit. Allerdings gab er auch zu: „Es kam mir gelegen, dass in dieser Phase das Tempo in unserer Gruppe raus war“.
Dass es für die beiden Schweizer Olympia-Trümpfe weit schlimmer hätte kommen können, wurde nicht nur am Beispiel Cink deutlich. Mathieu van der Poel, mit Flückiger der meistgenannte Gold-Anwärter, schied bereits nach weniger als zehn Minuten aus der Entscheidung aus. Der niederländische Vielfahrer, der im Vergleich zur Konkurrenz spät angereist war, stürzte bei einem Sprung spektakulär kopfvoran. Zwar setzte er das Rennen mit einer Minute Rückstand zunächst fort, in Runde 5 gab er aber auf. Er habe diesen Sprung nicht auf dem Schirm gehabt, räumte Van der Poel ein.
Nach dem Rennen überraschte Schurter mit der Aussage, dass es „vielleicht noch nicht das Ende“ war für ihn an Olympischen Spielen. 2024 in Paris wäre der Bündner 38-jährig – ein Alter, in dem sein langjähriger französischer Gradmesser Julien Absalon nicht mehr aktiv war. Er mache seine Planung vom weiteren Saisonverlauf abhängig, erklärte der achtfache Weltmeister und 32-fache Weltcupsieger, dessen Medaillensatz an Olympischen Spielen mit Gold 2016, Silber 2012 und Bronze 2008 auch ohne Edelmetall in Tokio komplett ist.
Im Gegensatz zu Schurter steht Tom Pidcock erst am Anfang. Doch ein Sensationssieger ist der bloss 50 kg schwere Nordengländer trotz seines jungen Alters nicht – und das nicht nur, weil ihm das Streckenprofil mit den zahlreichen kurzen, intensiven Anstiegen in die Karten spielte. Pidcocks Palmarès ist schon jetzt ordentlich dekoriert, mit Erfolgen in verschiedenen Disziplinen. Im Radquer gewann er 2020 WM-Silber hinter Van der Poel, auf der Strasse war er 2017 Junioren-Weltmeister im Zeitfahren und triumphierte er in diesem Jahr beim Pfeil von Brabant. Im olympischen Cross-Country der Mountainbiker mischte er nach den Erfolgen auf Nachwuchsstufe auch bei der Elite auf Anhieb vorne mit. sda/SC